Im 13. Lema der Risale-i Nur legt Bediüzzaman Said Nursi in dreizehn Hinweisen die Weisheit des koranischen Verses „Aʿūdhu billāhi minaš-šayṭāni r-rajīm“ dar. Er erklärt nicht nur die Notwendigkeit der Zuflucht, sondern analysiert präzise die spezifischen Angriffsstrategien des Satans und wie der Mensch diese durchschauen kann.
1. Die existentielle Notwendigkeit der ZufluchtDer Mensch ist von Natur aus schwach, arm und verletzlich, während seine Feinde und Bedürfnisse zahllos sind. Sein Schutz entspringt nicht ihm selbst, sondern kommt allein von seinem Schöpfer. Zuflucht zu suchen (istiʿādha) bedeutet daher keineswegs Passivität. Vielmehr ist es das bewusste Erkennen der eigenen Begrenztheit und das Ergreifen der unendlichen Macht Allahs. Dies ähnelt dem Bild eines Kindes, das sich bei Gefahr an die Hand seines Vaters klammert: Es ist kein Akt der Schwäche, sondern das Erkennen der wahren Quelle der Stärke.
2. Die Unterscheidung zwischen Vorstellung und BestätigungEin zentraler Punkt, den Nursi im 13. Lema hervorhebt, ist der feine Unterschied zwischen dem bloßen Vorstellen einer Sache (tasawwur) und ihrer Bestätigung (tasdiq). Viele Menschen geraten in Panik, wenn hässliche Gedanken oder Zweifel an Glaubenswahrheiten in ihrem Herzen auftauchen. Sie glauben fälschlicherweise, dass allein das Vorhandensein dieser Gedanken bedeutet, ihr Glaube sei beschädigt oder sie seien ungläubig geworden.
Bediüzzaman entkräftet diesen Irrtum: Die bloße Vorstellung von Unglauben ist kein Unglaube. Ebenso ist das Denken an eine Beleidigung keine Beleidigung. Solange das Herz diese Gedanken nicht bestätigt und akzeptiert, sind sie harmlos. Sie gleichen Schattenbildern oder Schlangen, die sich in einem Spiegel reflektieren, sie mögen bedrohlich aussehen, aber sie können nicht beißen und den Spiegel nicht beschmutzen. Die Gefahr entsteht erst dann, wenn der Mensch diese fremden Einflüsterungen für seine eigenen hält, sich ihretwegen ängstigt und dadurch dem Satan Macht über sich gibt.
3. Das Phänomen der IdeenassoziationOft fragen sich Gläubige beschämt, warum ihnen gerade während des Gebets oder an heiligen Orten besonders abscheuliche Bilder oder Gedanken in den Sinn kommen. Nursi erklärt dies mit dem Gesetz der Ideenassoziation. Im Gedächtnis des Menschen liegen gegensätzliche Dinge oft nahe beieinander. So wie man beim Anblick von Medizin an Krankheit oder beim Anblick von Kohle an Diamanten denken kann, so kann eine heilige Handlung durch eine bloße Assoziation einen profanen oder hässlichen Gedanken auslösen.
Dies ist jedoch keine Schwäche des Glaubens, sondern ein mechanischer Vorgang des Gehirns. Die Nähe dieser Gedanken zueinander bedeutet keine Vermischung. So wie eine Blume, die neben Schmutz wächst, dadurch nicht unrein wird, so beschmutzen diese unwillkürlichen Assoziationen nicht das reine Herz des Betenden. Wenn man dies versteht und die Gedanken einfach ignoriert, verflüchtigen sie sich. Beachtet man sie jedoch zu sehr, blähen sie sich auf.
4. Die Strategie der Verzweiflung und der SorglosigkeitDer Satan nutzt zwei gegensätzliche Waffen: Die Verzweiflung (ya’s) und die Sorglosigkeit/Achtlosigkeit (ghaflah). Wenn der Mensch nach Rechtschaffenheit strebt, versucht der Satan, ihm seine kleinen Fehler wie riesige Berge vor Augen zu führen. Er will ihn in die Verzweiflung treiben, damit der Mensch denkt: „Ich bin ohnehin verloren, meine Taten werden nicht angenommen“ und den Gottesdienst aufgibt. Hier liegt die Zuflucht darin, auf die unendliche Barmherzigkeit Allahs zu vertrauen und zu wissen, dass Allahs Vergebung größer ist als jede Sünde.
Will der Mensch hingegen sündigen, dreht der Satan das Fernglas um und lässt große Sünden winzig klein erscheinen, um den Menschen in Sicherheit und Sorglosigkeit/Achtlosigkeit zu wiegen. Die Zuflucht besteht hier in der Gottesfurcht/Gottesbewusstsein (Taqwa) und der Wachsamkeit.
5. Der Sinn der Existenz des SatansEine der tiefsten theologischen Fragen, die im 13. Lema beantwortet wird, ist, warum Allah den Satan und das Böse überhaupt erschaffen hat. Nursi erklärt, dass die Erschaffung des Bösen nicht böse ist, sondern das Begehen des Bösen. Der Satan dient im göttlichen Plan als ein Instrument des Fortschritts.
So wie der Falke, der den Spatzen jagt, die Flugkünste des Spatzen verbessert, so zwingt der Kampf gegen die Einflüsterungen des Satans die Seele des Menschen dazu, wachsam zu bleiben und spirituell aufzusteigen. Ohne diesen Kampf blieben die menschlichen Potenziale unentwickelt, wie bei den Engeln, deren Rang feststeht, oder den Tieren. Die Propheten und Heiligen haben ihre hohen Stufen gerade durch diesen Kampf gegen das Ego und den Satan erreicht. Der Satan ist also, ohne es zu wollen, ein Diener für den spirituellen Aufstieg des Menschen, vorausgesetzt, der Mensch sucht Zuflucht bei Allah.
6. ZusammenfassungZuflucht bei Allah zu suchen, bedeutet im Licht des gesamten 13. Lema nicht nur das Aufsagen einer Formel. Es ist ein umfassender Bewusstseinszustand, der folgende Aspekte vereint:
- Die Erkenntnis, dass hässliche Einflüsterungen nicht das eigene Selbst widerspiegeln (Unterscheidung von Vorstellung und Bestätigung).
- Das Verständnis psychologischer Mechanismen wie der Assoziation, um Panik im Gebet zu vermeiden.
- Die Balance zwischen Furcht und Hoffnung, um weder in Verzweiflung noch in Sorglosigkeit zu fallen.
- Das Wissen, dass dieser Kampf notwendig ist, um die verborgenen Diamanten der Seele zu schleifen und spirituell zu wachsen.
Wer dies verinnerlicht, für den wird die istiʿādha zu einer festen Burg und einem Weg zu innerem Frieden.
7. Glossar der Begriffe:- Istiʿādha (İstiâze): Das Suchen von Zuflucht bei Allah vor dem Bösen; das Sprechen der Schutzformel.
- Tasawwur (Tasavvur): Die bloße Vorstellung oder Imagination einer Sache, ohne sie zu beurteilen oder anzunehmen.
- Tasdiq (Tasdik): Die Bestätigung, Zustimmung oder das Für-Wahr-Halten einer Sache durch das Herz.
- Taqwa (Takva): Ehrfurchtsvolle Furcht (Gottesfurcht): Diese Furcht ist die Angst, die Liebe und das Wohlgefallen Allahs zu verlieren. Es ist die Ehrfurcht vor Seiner Größe und Gerechtigkeit, die den Gläubigen dazu bringt, sorgfältig zu handeln.
- Ya’s (Yeis): Absolute Verzweiflung; Hoffnungslosigkeit hinsichtlich der Barmherzigkeit Allahs.
- Ghaflah (Gaflet): Sorglosigkeit, Achtlosigkeit oder Unachtsamkeit gegenüber göttlichen Wahrheiten.
Autor: Nur on Air (NoA)




